M. Heßler u.a. (Hrsg.): Creative Urban Milieus

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Titel
Creative Urban Milieus. Historical Perspectives on Culture, Economy, and the City


Herausgeber
Heßler, Martina; Clemens Zimmermann
Erschienen
Frankfurt am Main 2008: Campus Verlag
Anzahl Seiten
435 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Victoria Harms

Mit diesem Sammelband setzen die Herausgeber Martina Heßler und Clemens Zimmermann neue Standards in der Debatte um kreative Milieus, urbane Kultur, die „creative class“ und ihre Bedeutung für die wirtschaftliche Prosperität einer Stadt. Dass dieser Band ausschließlich auf Englisch vorliegt, ist nicht nur der Beteiligung britischer und finnischer Historiker geschuldet, sondern auch der Tatsache, dass diese Diskussion bisher hauptsächlich im anglo-amerikanischen Raum statt fand. Mit dem historischen Blick auf Europa übertragen die Autoren die Diskussion nicht nur auf die hiesigen Geschichtswissenschaften, sondern legen auch bemerkenswerte Ergänzungen und begründete Einwände gegen die umläufigen Theorien vor.

Obwohl jeder Beitrag für sich Gültigkeit reklamieren kann, ist die programmatische Einleitung mehr als empfehlenswert: Heßler und Zimmermann stellen hier unter anderem Richard Florida, der 2002 mit The Rise of the Creative Class auf sich aufmerksam machte, und Charles Landry’s The Creative City. A Toolkit for Urban Innovators (2000) vor. Laut Florida entscheiden die 3 Ts – Technologie, Toleranz, Talent – in einer Stadt über die Möglichkeiten für Kreative und Kulturschaffende im Zeitalter der Globalisierung. Landry entwickelte ein Modell, mit denen Städte ihre kreativen Potentiale bestmöglich auf dem Weltmarkt etablieren können.

Stärken und Schwachstellen dieser und weiterer Konzepte urbaner Kultur in einer post-industriellen, globalisierten Wissensgesellschaft werden herausgearbeitet, bevor sich die Herausgeber der bisher vernachlässigten historischen Perspektive verschreiben: Fälschlicher Weise wird die „creative class“ oft als Phänomen der letzten zwei Jahrzehnte wahrgenommen. Präzise werden zentrale Begriffe wie „Cultural Economy“ (S. 14), ‚Kreativität‘ (S. 17) oder Milieu und Szene definiert. Darüber hinaus wenden sich Heßler und Zimmermann dem möglichen wirtschaftlichen Nutzen kreativer Milieus zu, auf den kulturpolitische Maßnahmen zur Standortattraktivität eben zielen. Vorausgesetzt wird stets ein wirtschaftlicher Gewinn bei der Ansiedlung kreativen Potentials, jedoch ist dieser kaum zu beziffern. Zudem gelten Dichte, Vielfalt und besonders die Unbeständigkeit der Städte neben dem spezifischen Image als entscheidende Faktoren (S. 30). Aber in wieweit lässt sich kreative Produktivität, das Herstellen kultureller Symbole überhaupt lokal binden und wirtschaftlich nutzen? Was waren die Voraussetzungen bisheriger Erfolgsbeispiele? Welche Eigenschaften, Ereignisse oder Akteure sind und waren notwendig?

Die darauffolgenden Essays wenden sich diesen Fragen in zahlreichen Fallbeispielen und Vergleichsanalysen zu. Die internationale Autorenschaft besteht sowohl aus Nachwuchswissenschaftlern als auch etablierten Historikern. An dieser Stelle sollen nur einige der wichtigsten Argumente aus den 16 Essays dargelegt werden: Der Bereich urbane Kultur ist breit angelegt und spiegelt sich hier in Lebensstilen, Musik, Luxushotels, Mode, Architektur, Photographie oder Tourismus, Hoch,- Massen- oder Subkultur wieder. Nur einige Ausnahmen setzten sich eine übergreifende, theoretische Erarbeitung zum Ziel.

Zunächst weisen Zimmermann („The Productivity of the City in the Early Modern Era: The Book and Art Trade in Venice and London) und Borsay nach, dass die Darstellung der cultural economy als ein Novum des 20. Jahrhunderts oder nur der 1980er-Jahre nicht haltbar ist. Schon anhand des Vergleichs des Buch- und Kunsthandels im Venedig der Renaissance oder Londons werden wiederkehrende Charakteristika kreativer Milieus identifiziert: die physische Nähe der Kulturschaffenden zueinander, Internationalisierung und eine offene, tolerante Einstellung der urbanen Gesellschaft erweisen sich hier als grundlegend.

Die lokale Infrastruktur und die ‚natürlichen‘ Vorzüge begünstigen die analysierten Städte gegenüber der Provinz: Die Siedlung an Verkehrsknotenpunkten des sich ausdehnenden Eisenbahnnetzes oder des Schiffverkehrs im 19. Jahrhundert, die Entstehung eines gebildeten Bürgertums, die Verbreitung der Presse etc. beförderten das Entstehen kreativer Stadtviertel im Westen Europas. Dezidiert weisen die Autoren auf spezifische Orte innerhalb der Städte hin, die sich je nach Standort durch eine enge Verknüpfung von sozialen Treffpunkten, Unterhaltungsetablissements oder künstlerischen Schaffensorten, der Kombination von Hoch- und Massenkultur auszeichneten. Ungehindert flossen hier Informationen und Wissen, aber entstanden auch Probleme, die den modernen Städten mit ihrer kulturellen, ethnischen und sozialen Vielfalt eigen sind. Diese Spannung eben, so wird argumentiert, brachte Kreativität hervor, da sie innovative Lösungen angesichts neuer Probleme forderte. Möglichkeiten, sich durch Spezifika, besonders kulturelle Symbole von der Konkurrenz abzuheben – als Stadt wie als Milieu und Individuum – gewannen zunehmend an Bedeutung.

Seit 1900 und besonders während der weltweiten Wirtschaftskrise in der Zwischenkriegszeit konnte die neu entstehende Kulturpolitik die wirtschaftliche Prosperität einiger Städte sichern, bzw. initiieren. Die Förderung von Bildungsinstitutionen, der Bezug auf traditionelle Kulturprodukte (z.B. die Buchkunst in Leipzig) und der Ausbau des Verkehrsnetzes, die Restauration vernachlässigter Viertel oder konsequentes City Marketing/Image Branding haben sich bewährt, wie die Beispiele Venedigs, Helsinkis, Berlins, Londons oder Hamburgs belegen. Obwohl es eben die Besonderheiten und Zufälle zu sein scheinen, die in einer Stadt kreative Milieus entstehen lassen, zeigt die hier gebotene historische Perspektive doch einige Möglichkeiten, mit denen die Chancen auf die Ansiedlung von Kreativität und cultural economies erhöht werden können. Institutionalisierung und Professionalisierung durch wirtschaftliche oder politische Anregungen werden ebenso beachtet wie subkulturelle Anstrengungen. Nicht nur der Wille und die Fähigkeit zur Kreativität sind entscheidend, sondern auch die Bereitschaft, Neues auszuprobieren und zu akzeptieren. Selbst die Zerstörung durch den Zweiten Weltkrieg oder die folgende De-Industrialisierung einiger Städte kann gerade als Chance für kreative, kulturelle Milieus gewertet werden.

Mehrfach wird betont, dass sich cultural economies nicht endlos selbst perpetuieren, wie bereits Peter Hall in Cities in Civilization (1998) festgestellt hatte. Die verschiedenen Arbeiten zu Manchester, Hamburg oder Helsinki in unterschiedlichen Perioden heben dies hervor, wobei ein und dieselbe Stadt mit verschiedenen Ausprägungen kultureller Urbanität Bedeutung erlangen konnte.

Andere wiederum stellen in Frage, ob die getroffenen kulturpolitischen Maßnahmen der letzten Jahre dem historischen Erbe gerecht werden, wie im Falle der HafenCity in Hamburg (Jörn Weinhold, „Port Culture: Maritime Entertainment and Urban Revitalisation, 1950-2000“). Birgit Metzler erläutert anhand des Beispiels Garching und Martinsried bei München, die beide vom Reißbrett geplant und aus dem Nichts hochgezogen wurden, dass auch „scientific cities“ eine selbst gewachsene urbane Umgebung benötigen. Denn es sind gerade die Probleme und Differenzen einer Stadt, die nicht nur Kommunikation fördern, sondern auch innovative Lösungen fordern („Creative Milieus: Concepts and Failures“). Alexa Färber stellt darüber hinaus Beispiele vor, wie Kulturschaffende selbst mit dem Risiko des Scheitern innovativ umgegangen sind („Flourishing Cultural Production in Economic Wasteland: Three Ways of Making Sense of a Cultural Economy in Berlin at the Beginning of the Twenty-first Century“).

Mehrfach wird betont, dass sich im Laufe der letzten Jahrhunderte kein allgemeingültiges Erfolgsrezept ergeben hat und kreative Milieus sich kaum planen lassen. Trotzdem gelte das „global-local paradox“: Gerade in einer globalisierten Welt werden Städte und ihre spezifischen Eigenschaften benötigt, um Kreativität zu bündeln. Besonders Städte und die Risikobereitschaft ihrer politischen und wirtschaftlichen Eliten, ihre Offenheit gegenüber Neuem vermögen sich den Problemen der Zeit zu stellen und ein kreatives Milieu hervorzubringen – zum Wohle einer Stadt.

Dass in keinem der Artikel Beispiele aus dem ehemaligen Ostblock näher betrachtet werden, ist zu bedauern. Schließlich muss man sich fragen, wie in einer Gesellschaft, die auf Planwirtschaft basierte und unkontrollierte Kreativität und individuelle Initiativen unterdrückte, trotzdem kulturelle Milieus entstehen konnten. Das kreative Potential der subkulturellen Milieus in Prag oder auch Dresden – verwiesen sei hier nur auf Vaclav Havel oder A.R. Penck – sollte nicht unterschätzt werden. Immerhin findet sogar Venedig in der faschistischen Zwischenkriegszeit durch die Analyse von Jan Andreas May Eingang in diese Sammlung („Queen of the Arts – Exhibitions, Festivals, and Tourism in Fascist Venice, 1922-1945“). Zudem haben die realsozialistischen Systeme Spuren im Stadtbild hinterlassen, die nicht allein durch die Beseitigung kommunistischer Denkmäler behoben werden konnten. Bottàs Bezüge zum kulturellen Beitrag Ostberlins nach 1989 hingegen sind unter diesem Blickwinkel eher schwach.

Nichtsdestotrotz zeichnen sich sowohl der Sammelband an sich als auch die einzelnen Artikel durch eine übersichtliche Strukturierung und klare Formulierungen aus. Creative Urban Milieus bietet einen guten Einstieg für solche, die mit diesem Thema noch wenig vertraut sind. Die Annäherung durch konkrete Beispiele und unterschiedliche historische Epochen im Stile Sir Peter Halls erweist sich für Kulturhistoriker als sehr ergiebig. Die fundierte Kombination aus Theorie und Praxis gelingt mehrheitlich. Der Sammelband ist eine Bereicherung des Forschungsfelds.

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